Judo für den Frieden

Es begann mit einer SMS: „Hallo Maryna, ich hoffe, dass es Dir und Deiner Familie gut geht. Wenn es nötig sein sollte, dass Ihr vor dem Krieg fliehen müsst, bieten wir Dir an, bei uns unterzukommen, solange es dauert. Du warst ja schon einmal da und kennst es etwas… Unsere Herzen sind in der Ukraine. Beste Grüße aus Wiesbaden. Alex“

Bei einer SMS bekommt man eine Zustellbenachrichtigung. Diese wurde wohl den Umständen geschuldet erst nach fast 12 Stunden empfangen. Abgeschickt hat diese SMS Ende Februar vor über einem Jahr einer der langjährigen Betreuer des

Bundesliga Damen Teams des Judo Club Wiesbaden 1922 e.V., Empfängerin war Maryna Cherniak, eine ukrainische Judokämpferin im Superleichtgewicht mit internationalem Niveau, die den JCW in manchen Bundesliga und Endrunden Begegnungen loyal und zuverlässig unterstützt hatte.

Auslöser waren diese ungeheuerlichen Fernsehbilder eines Krieges, bei dem Russland nach langen Manövern und scheinbarer Wahrung des olympischen Friedens tatsächlich die Ukraine überfallen und angegriffen hatte und den Verfasser dieser Zeilen in ungewohnter Weise emotionalisiert und in Unruhe versetzt hatten. Dieses Gefühl im Bauch, wie ein Tiefschlag spürbar, und die kaum auszuhaltenden Empfindungen der Machtlosigkeit und erzwungenen Untätigkeit gegenüber einer solch bodenlosen Ungerechtigkeit ist wohl nicht nur für einen im Kampfsport sozialisierten Menschen schier unerträglich.

Die Antwort-SMS einen Tag später war ernüchternd: „…Wir können nicht über die Grenze gehen und jetzt gehen. Das ist gefährlich. Krieg auf den Straßen. Wir müssen uns in der Ukraine verstecken. Vielen Dank für Ihre Unterstützung.“

Sechs Minuten später: „Ehemann ist in der Defensive. Ukraine verteidigen. Ich kann nicht mit meiner Mutter und meinem

Baby reisen. Es ist nicht sicher.“ Ich wünschte Ihr Glück, wies darauf hin, dass das Angebot bestehen bliebe und war mit dem

mulmigen Gefühl wieder allein.

Ein paar Tage später wurde der Autor durch eine Nachricht von dem ihm bis dato nicht bekannten Kyryll Vertinski überrascht, die ihn über Facebook erreichte: „Hello! link for account gave me Marina Cherniak! It’s war in Ukraine now! Today I’m and 25 young judokas gone out from Ukraine. These young boys and girls has good judo skills. We need place for study and living. Maybe you can give me some advise or help. Age of judoka are under 17.”

Wie wir erst später erfahren haben, haben die Lehrer eines Sportgymnasiums mit den Kindern und deren Eltern die Entscheidung getroffen zu fliehen, als sie in einem Luftschutzbunker in Saporischschja saßen und die Raketen in der Stadt einschlugen. In dem Regierungsbezirk dieser Großstadt mit über 600.000 Einwohnern ist auch die größte europäische Atomkraftanlage mit sieben einzelnen Meilern gelegen.

Erste Hinweise der deutschen Behörden für Flüchtlinge habe ich an Kyryll gegeben und die Anfrage mit Erläuterungen an das Hessische Innenministerium, den Hessischen Judoverband sowie den Deutschen Judobund weitergeleitet und um Unterstützung in allen Belangen gebeten. Diese Anfrage hatte für mich natürlich eine ganz andere Dimension und Verantwortung. Eine junge Frau mit Baby und ihrer Mutter hätten wir in unserer Wohnung noch untergebracht, aber 25 minderjährige Kinder mit einem Trainer zu versorgen, sprengte erst einmal meine Vorstellungskraft. Im Vorstandskreis, der auch privat gut befreundeten „Judo

Altmeister“ des JCW (Philipp Eckelmann, Dr. Christoph Meister, Niki Becker, Achim Enders, Robertson Linsner und der Autor)

haben wir uns mit dem Thema intensiv beschäftigt und sachlich die Fragen erörtert, ob unser Verein da unterstützen kann oder möglicherweise überfordert wird und Schaden nimmt. Aber nach dem Abwägen aller Fragestellungen, der zu erwartenden Probleme, Zweifel und Hoffnungen haben sich die alten Kämpfer alle einmal tief in die Augen geschaut und einfach festgestellt: „Wir müssen helfen!“

Wir haben dann direkt Kontakt mit Kyryll aufgenommen und ihm unsere Unterstützung zugesichert. Am folgenden Tag gab es in Wiesbaden den „Markt der Hilfe“ für die Ukraine auf dem Schlossplatz in Wiesbaden, wo Robertson Linsner schon die Zusage des Oberbürgermeisters Gert Uwe Mende bekommen konnte, dass die Gruppe in Wiesbaden untergebracht werden würde. Kyryll wurde dann umgehend signalisiert, dass er nach Wiesbaden kommen solle.

Dann war es an einem frühen Samstagmorgen um 00.45 Uhr soweit: Nach einer 2.000 km langen Reise von Saporischschja am Dnjepr über fünf Staatsgrenzen hinweg innerhalb von zehn Tagen mit coronabedingten Verzögerungen in Wien kam ein alter gelber Schulbus, dessen Höchstgeschwindigkeit außen mit 70 km/h angegeben war, in der städtischen Erstaufnahme in Wiesbaden mit sichtlich erschöpften Insassen an. Schon kurz darauf wurde die Gruppe in der Jugendherberge übergangsweise untergebracht, um dann schließlich in Einrichtungen der Jugendhilfe von EVIM und des Johannesstifts eine vorläufige Bleibe zu finden.

Eine weitere Gruppe aus Saporischschja unter der Betreuung des Europameisters im Schwergewicht von 2014, Stanislaw Bondarenko, fand ebenfalls noch den Weg nach Wiesbaden, sodass insgesamt 35 junge Judoka, zwei Trainer und noch eine Reihe von Familienangehörigen hier für das Erste eine neue Heimat fanden. Die Aikido-Trainerin Marina Sandak des JCW hat dann monatelang ehrenamtlich Deutschunterricht mit den Geflüchteten gemacht, bis die Kinder in die institutionellen Strukturen übernommen werden konnten. Alle Kinder und Jugendlichen gehen inzwischen in die Schule, die Trainer haben Anstellungen bei

den Jugendhilfeeinrichtungen. Alle sprechen immer besser Deutsch. Die Internationale Judo Federation, IJF, ermittelt durch öffentliche Abstimmung jedes Jahr den besten Judoka, männlich und weiblich, sowie weitere Preiskategorien. 

2022 ging hier nach großem Engagement von Kyryll Vertinski erstmals ein Preis nach Deutschland: Gewonnen in der Kategorie

„Judo for Peace“ hatte der Judo Club Wiesbaden 1922 e.V. Abschließend bleibt festzustellen, dass die Hilfsbereitschaft in konkretem Fall in einem hohen Maße vorhanden, sowie die Unterstützung der städtischen Behörden angefangen vom Oberbürgermeister über das Sozial-/Jugendamt und die Ausländerbehörde schnell, unbürokratisch und sehr menschlich erfolgt ist. Die Loyalität und Kameradschaft in der Judo-Gemeinschaft ist vorbildlich und kann Berge versetzen. 

Alexander Grautegein (Zweigstelle Wiesbaden)

Ankunft der ukrainischen Sportler in Wiesbaden
Nach dem gemeinsamen Judo-Training